Atmosphäre

Kloster Irsee: Tage des Lichts

Wer nördlich der alten freien Reichsstadt Kaufbeuren das Wertachtal verlässt und durch eine Waldsenke eine der vielen eiszeitlichen Moränenablagerungen dieser Gegend hinauffährt, dem öffnet sich plötzlich die Aussicht auf eine prächtige Barockanlage: Kloster Irsee.

Im Taleinschnitt erhebt sich zunächst ein mächtiger, hochragender Gebäudekomplex, eine sperrende Bastion. Dieser Gebäuderiegel aber löst sich bald auf, und der Blick folgt erleichtert den filigran-bewegten Türmen, die wie formenreiche Scherenschnitte den hohen Horizont über der barocken Stiftskirche durchbrechen. Der Sattel der ausladenden roten Dächer über der ehemaligen Klosteranlage aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts beherrscht einen harmonisch gegliederten Bau, der durch breite Risalite in Abschnitte geteilt ist.

Auffällig wird dann der Rhythmus der vielen Fenster, die in dreistöckiger Reihe die Fassaden durchbrechen. Erst aus der Nähe erkennt man, dass manches Fenster zur Wahrung der Symmetrie nur gemalt ist. Trompe l'oeil – das Prinzip barocker Architektur und Malerei, Harmonie als Produkt des schönen Scheins oder als Effekt mystischer Zahlenverhältnisse? Drei Stockwerke über dem Viereck der Bauanlage, die sich um einen geschlossenen Innenhof gruppiert. Nach uralter Symbolik begegnen sich in den Zahlen Drei und Vier Himmlisches und Irdisches. Irsee als Brennspiegel kosmischer Ordnung. Der Besucher, der durch das westliche Portal eintritt, bewegt sich unbewusst in einem Mikrokosmos, wo Kräfte des Himmels und der Erde zu dichter Gestalt sich verbinden. Spürt man es nicht gar? Gibt es Orte, wo sich die formenden Kräfte des menschlichen Geistes besonders gern binden, weil sie dort leichter Form gewinnen?

Wenn man das Schwäbische Bildungszentrum heute betritt, das der Bezirkstag von Schwaben unter seinem kulturbewussten und engagierten Präsidenten Dr. Georg Simnacher zwischen 1974 und 1981 in den Mauern des Benediktinerklosters Irsee, seit 1803 säkularisiert, einrichtete, möchte man fast glauben, dass es den "genius loci" auch hier in einem Waldtal des Ostallgäus gibt. Wissenschaft und Bildung waren neben dem liturgischen Gebet und kluger Wirtschaft wichtige Schwerpunkte im Leben der Irseer Mönche. Vor allem die Naturwissenschaften fanden im 18. Jahrhundert neben Philosophie und Musik renommierte Repräsentanten unter den Mitgliedern des Irseer Konvents. Namen wie Ulrich Weiß, Candidus Wehrle, Ulrich Peutinger, Eugen Dobler oder Meinrad Spieß treten aus der Gemeinschaft der Patres hervor.

Was wundert es, dass nach 200 Jahren dieser Geist in die ehemaligen Klosterbauten zurückkehrt und im prächtigen Ambiente nach langer Zweckentfremdung eine adäquate Heimat wiederfindet. Allerdings in modernen Dimensionen: Lebten im 18. Jahrhundert höchstens 25 Mönche im Kloster, so beherbergt das Schwäbische Bildungszentrum jährlich rund 20.000 Übernachtungsgäste: 15 weitläufige, modern ausgestattete Tagungsräume - vom festlichen Saal bis zum intimen Gruppen- oder Besprechungsraum, rund 100 Betten, eine eigene Küche fürs Restaurant, machen jeden Kongress, jede Tagung zum festlichen Erlebnis. Die Atmosphäre zwangloser Heiterkeit, gelassener Konzentration wird von Tagungsveranstaltern, ihren Trainern und Teilnehmern gleichermaßen geschätzt.

Ob man will oder nicht – man ist fasziniert und gefangen von der zarten Farbigkeit, der anmutigen Stuckornamentik in den lichtdurchfluteten Treppenhäusern und Gängen, in den liebevoll restaurierten Funktionsräumen wie Bibliotheksaal, Empfangszimmer, Kapitelsaal. Hier hat der Gast auch überall Luft zum Atmen und Raum zum Bewegen. Das Eingangstreppenhaus ist eine prächtige Ouvertüre mit seiner überwältigenden Barockszenerie – ein Schmuckstück des Wessobrunner Stuckateurs Franz Schmutzer, geschaffen von 1727 - 1729 unter dem Deckengemälde von Franz Anton Erler aus den Jahren 1730 - 1735.

Prominente Gäste aus Politik, Wirtschaft und vor allem Wissenschaft waren hier seit der Restaurierung des Schwäbischen Bildungszentrums zu Gast. Zwei große Veranstalter nutzen dieses Juwel unter den Bayerischen Bildungsstätten besonders intensiv: die Schwabenakademie, vom Bezirk Schwaben mit den schwäbischen Volkshochschulen ins Leben gerufen, und das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags.

Hat die Schwabenakademie ihren Schwerpunkt in der Erwachsenenbildung mit den Themenfeldern von Anthropologie und Kulturgeschichte sowie im künstlerisch-kreativen Bereich und in der Musik, widmet sich das Bildungswerk der Fort- und Weiterbildung in den Bereichen des Sozialen und der Psychiatrischen Versorgung in Bayern.

Letzteres ist in Irsee auch ein Stück Wiedergutmachung: In der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, zu deren Bereich Irsee gehörte, fanden die Schergen und Handlanger der mörderischen Euthanasie während des Nazi-Regimes ihre Opfer. Dies waren wohl die finstersten Stunden des ehemaligen Klosters, das in seiner Geschichte auch von den Wirren und Katastrophen der Bauernkriege, des 30-jährigen Kriegs und der Säkularisation betroffen war.

Das Gedenken daran gehört auch dazu, wenn man beispielsweise in der prächtigen weißgewölbten Halle der alten Klosterkirche sitzt und den Blick vom flammenden Orgelprospekt des Balthasar Freiwiß über die berühmte Schiffskanzel, die dunklen Kirchengemälde des Paters Magnus Remy zu den juwelengeschmückten Reliquien der christlichen Märtyrer auf den Altären schweifen lässt: Was vermag die Tradition abendländisch-christlicher Bildungserziehung gegen mörderische Brutalität und Zerstörung, gegen die immer wiederkehrenden Schrecken der Geschichte? Sie schafft eben doch den Neubeginn und den Aufbruch zur Menschlichkeit – sie zeigt die Möglichkeiten des Menschen in höchster und schönster Vollendung. Deshalb ist Irsee so wichtig.

Dr. Rainer Jehl
1984 – 2009 Direktor der Schwabenakademie

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